über die Ausstellung : Dörte Putensen" Die Ideologie des Fadens"!
Datum: 01.09.2016
Fäden schlängeln sich im Zickzack-Kurs voran, unstetig die Farbe wechselnd, durch ein Gewirr an Formen und Farben. Fügen zusammen, was im Auseinanderstreben begriffen ist. Schaffen unterschwellig
Linearität, verfolgen einen Plan, einen Weg... „Man findet immer einen Weg“, so die Künstlerin im Gespräch über das Leben und ihren kreativen Schaffensprozess. Und so wird der Faden zum Leitfaden
durch ihr Oeuvre. Er führt in fließenden Bewegungen über die Bildfläche und fügt unter sich Stoffschnipsel verschiedenster Art zu experimentellen Farbkompositionen, figürlichen Darstellungen,
abstrahierten Landschaften und symbolträchtigen Bildern, die von einer ganz persönlichen, bildnerischen Umsetzung der Künstlerin zeugen, zusammen. Die Bandbreite der Motivik äußert sich in
oftmals kräftig kolorierten Stoffcollagen und – objekten, die von einer kompakten textilen Fülle gekennzeichnet oder auch reliefartig ausgebildet sein können. Manche Arbeiten jedoch sind eher von
einer zarten Fragilität und Farbigkeit geprägt.
Eine herausgestellte Position nehmen die Porträts ein, die in der Regel keinen konkreten Vorbildern, sondern Eingebungen im Schaffensprozess folgen und allenfalls währenddessen Ähnlichkeiten zur
Realität offenbaren. Frontal, mit leicht geöffnetem Mund und durchdringendem Blick schaut uns mit „Skepsis“ (2016) ein weibliches Gesicht an – die markanten Augen in einen feinen Schatten
nachdrücklichen Zweifelns gehüllt. Fragmente diverser Netz- und anderer durchscheinender Stoffe fügen sich zu einer von einem starken Hell-Dunkel-Kontrast dominierten, kristallinen Komposition,
zusammen. Das lange Haar umrankt in dunklen Schwarz-, Braun- und Ockertönen das zarte Gesicht um sich dann in weichen Wellen über die Schultern zu ergießen. Das Licht spielt mit der Transparenz
und den Farben und bestärkt die diaphane Materialität, welche uns in den Bann der Zweiflerin zieht.
Der Arbeitsprozess Dörte Putensens beginnt mit der intuitiven Auswahl vorgefundener textiler Reststücke jeglicher Art – geschenkte, gefundene, aus Familienbesitz stammende und recycelte Stoffe
wie Orangennetze und Kartoffelsäcke, Bildleinwand oder aus dem Theaterfundus stammende Textilien finden Verwendung. Währenddessen entsteht ein konkretes Bild vor den Augen der Künstlerin. Das
Zusammenfügen und Stecken der Stoffteile, die immer wieder gleichen Handgriffe und das spätere Fixieren der Bildbestandteile durch die fließende Bewegung der Maschine, geschehen in einem beinahe
meditativen Akt. Die Grundlage dieses künstlerischen Prozesses, den sie ‚Malen mit Stoff’ nennt, gründet in der rein subjektiven Verwendung textiler Materialien, wobei ihre Stoffcollagen in
Referenz zur Malerei, letztendlich von einem textilen Rahmen umgeben werden.
Mehrere ihrer Arbeiten haben die Auseinandersetzung mit körperlichen Verletzungen zum Inhalt: Eine tiefe Kopfverletzung mit voller Wucht hineingerissen - das Innerste entblößend. Einer
Kompassnadel gleich, weist eine klaffende Wunde über die Begrenzungen hinaus auf ein Ungewisses, im dunklen Verborgenes. Das eigene Sein und Denken und alles, was den menschlichen Geist in seiner
Kreativität ausmacht, sind in ihrer Existenz gefährdet und im Kampf ums Überleben aufs Direkteste mit dem Außen konfrontiert. Die im geometrisch Abstrakten verhaftete Komposition der Arbeit „Die
Narbe“ (2015) ist trotz seiner vereinfachenden und stark farbigen Formen von einer intensiven Fleischlichkeit gekennzeichnet.
„Ohnmacht“ (2016) zeigt zwei Hände, abgetrennt vom Rest. Sie sind ohne Macht, ihrer schützenden und schöpferischen Funktion scheinbar beraubt, unbeholfen und verwundet. Wie ein Vulkan türmen sich
Bruchstücke vor ihnen auf, scharfkantig und verletzend, gleich dem schmerzvollen Hervorbrechen eines in den Tiefen des Unterbewusstseins Verdrängtem, und verwickeln die Hände in einen
Schaffensprozess. Sie bringen Ordnung ins Chaos, fügen die verstreuten Details Erkenntnis gewinnend wieder zusammen. Ein roter Pfeil verweist auf die rechte Hand. Dieses Symbol lenkt einerseits
die Aufmerksamkeit und verleiht dem Bild zudem eine zielgerichtete Bedeutung. Die Ohnmacht kann überwunden, das Individuum zum Sieger werden. Nach einem schweren Verkehrsunfall der Künstlerin,
der in der Folge zu gravierenden und langwierigen, körperlichen Beeinträchtigungen führte, war ihr das Malen mit Pinsel und Farbe fortan nicht mehr möglich. Dörte Putensen übersetzte daher 2010
das Nähen, das sie bereits als Kind praktizierte, in einen künstlerischen Prozess. Ähnlich wie bei der Malerin Frida Kahlo (1907–1954), die als junge Frau bei einem Busunglück schwerste
Verletzungen erlitt und fortan von chronischen Schmerzen begleitet war, legt auch das künstlerische Oeuvre Putensens Zeugnis ihrer Leidensgeschichte und deren Bewältigung ab.
Somit reiht sich ihr Werk eher zufällig in eine künstlerische Entwicklungslinie textiler Materialverwendung ein. Dass Textiles neben seinen funktionalen und dekorativen Aspekten auch Ausdruck
künstlerischer Schaffenskraft ist, präsentierten in jüngster Zeit zahlreiche Ausstellungen (u. a. „Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute “, Kunstmuseum
Wolfsburg, 2013/14; „To Open Eyes. Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute“, Kunsthalle Bielefeld, 2013/14; „Stichproben“, Landesmuseum Oldenburg, 2016). Aufgrund der weiblichen und sinnlichen
Konnotation wurden textile Materialien lange Zeit eher als minderwertig angesehen und dem Kunsthandwerk anstatt der hohen bildenden Kunst zugeordnet. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch
verließen manche Künstler die traditionellen Wege und begannen, mit neuen, oft dem Alltag entnommenen Materialien wie Stoffen zu experimentieren. Marcel Duchamp (1887 – 1968) beispielsweise
bezog bei seinen Readymades Faden und Schnur mit ein wie in seiner Arbeit ‚Sixteen Miles of String’ (1942). Pablo Picasso (1881 – 1973) und auch Kurt Schwitters (1887 – 1948) verwendeten für ihre
Collagen Textilien und forderten „die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien“. Ebenso trug das Bauhaus mit neuartiger Verwendung von Stoffen dazu bei, die Schranken zu durchbrechen -
ein entscheidender Impuls für die Meister der Moderne. Diese Entwicklung mündete in den 1960er Jahren mit der Entstehung sogenannter Soft Sculptures und der Fibre Art. Rosemarie Trockel (geb.
1952) verblüffte in den 1980er Jahren mit maschinellen Strickbildern und –objekten und machte mit der oftmals als weiblich belächelten handwerklichen Technik international Schule. Louise
Bourgeois (1911 – 2010) bezog vielfältig weiche Materialien wie Stoffe in ihre Bildhauerei mit ein und Joseph Beuys (1921 – 1986) verwendete Filz als Metapher in seinen Werken. Faden und Gewebe
sind fortan zugleich Grundlage, Ergebnis und Ideengeber, greifen auf Malerei, Skulptur, Installations- und Medienkunst über.
Putensens Installation mit dem Titel „Ansichten“ (2016) besteht aus rund zwanzig in unterschiedlichsten Farbspektren mit Stoff und Faden gefüllten Kreisen, die wie Augen im Raum schweben und den
Besucher fixieren. Tänzelnd und beobachtend nehmen sie die Vertikale im Treppenhaus ein. Allwissend das große Auge, das über allem thront und nichts und niemanden aus dem Blick lässt. Je weiter
der Betrachter nach oben steigt, desto mehr gewinnt die Installation an Fülle und Farbigkeit. Der Besucher gerät in Versuchung, die an einzelnen Fäden aufgehängten Objekte berühren zu wollen um
erwartungsvoll deren Haptik und Reaktion zu untersuchen. Als nicht endende Linie ist der Kreis Symbol der Unendlichkeit. In allen Kulturen begegnet man der Kreisform als archetypisches Symbol für
etwas Vollendetes, Universelles oder Vereinendes, für das Leben und den Kreislauf der Natur. Künstler sind seit je her vom Kreis fasziniert und greifen die Form in ihren Werken auf. Ein wichtiger
Meilenstein für die moderne Kunst war beispielsweise die Auseinandersetzung Kasimir Malewitschs (1878 – 1935) mit den geometrischen Grundformen wie dem Quadrat und dem Kreis. Jedes Element der
Installation Putensens verfügt über zwei unterschiedliche Ansichten und verkörpert damit sprichwörtlich die zwei Seiten einer Medaille, Anfang und Ende, Ein- und Ausblick. So lässt sich ihre
Arbeit in mancherlei Hinsicht deuten: Sei es als Metapher für verschiedene Denkweisen, den Weg zur Erkenntnis oder etwa für die fortwährende Beobachtung im gesellschaftlichen
Kontext.
Im Rückblick und den Gedankenfaden nochmals aufnehmend, erschließt sich nicht nur der Sinn der abstrakten Arbeiten Putensens wie „Standpunkt“ (2016), „Fadenexplosion“ (2015) oder
„Zerstörung“(2016) als ein bildnerischer Ausdruck der Dualitäten Heilung und Zerstörung, Ordnung und Chaos, Hoffnung und Wut, sondern gleichermaßen der Sinn ihres gesamtes Werks. Dörte Putensen
lässt den Faden gleich einem Gedankengang mit einer Idee im Gepäck über die Fläche gleiten. Schon für Paul Klee (1879 – 1940) war die Linie eine Metapher für den Gedanken. Ebenso tauchen im Duden
Begriffe wie ‚der rote Faden’, ‚Gedankengang’ und ‚Zusammenhang’ als Synonyme zum ‚Faden’ auf. Den von der Gesellschaft geforderten Perfektionismus hinter sich lassend, wirkt das Oeuvre Putensens
wie ein Befreiungsschlag, eine Suche nach einer neuen Wahrheit, nach einer Verwurzelung in der Natur und gipfelt mit der Arbeit „Freiheit“ (2013), dem Abbild eines mit weit ausgespannten Flügeln
in der blauen Weite des Himmels fliegenden Adlers. Das Fragmentarische, Zersplitterte, Zerstörte wieder ordnend, fügt die Künstlerin die Bruchstücke zu etwas Neuem zusammen, in dem auch das
kleinste Teilstück von Wert ist und macht sich in diesem heilenden Prozess frei von Vorurteilen und Beschränkungen
----------------------------------------------------------------------- Melanie Wichering, Kunsthistorikerin --------------------------------------------------------------------------